GenLt a.D. Hans-Werner Fritz, Präsident BDF
Vortrag beim Tag der Fallschirmjäger am 28.09.2017 in Altenstadt

 „Tradition und soldatisches Selbstverständnis – Anmerkungen zu einer aktuellen Diskussion“

– Es gilt das gesprochene Wort! –
1. Einführung
Ihnen allen, meine Damen und Herren, ist bekannt, dass derzeit der Traditionserlass der Bundeswehr von 1982 in Überarbeitung ist. Auslöser war wesentlich der Fall des rechtsextremen Oberleutnants Franco A., die dann nachfolgenden Untersuchungen – unter anderem in der Garnison Illkirchen – sowie die abschließende Weisung des Verteidigungsministeriums, alle Unterkünfte der Bundeswehr auf Konformität mit eben dem Traditionserlass von 1982 zu überprüfen und die Ergebnisse zu melden. Dem Vernehmen nach wurden 400 Gegenstände, meistens mit Bezug auf die ehemalige deutsche Wehrmacht, gefunden.
All dies führte u.a. dazu, dass der bis dahin gültige Traditionserlass von 1982 überarbeitet werden soll. Natürlich kann man sich grundsätzlich die Frage stellen, ob ein Traditionserlass, der 35 Jahre alt ist und von daher weder die Wiedervereinigung, noch die Integration von Angehörigen der ehemaligen NVA sowie das Aussetzen der Wehrpflicht reflektieren kann, nicht überarbeitet werden sollte. Im übrigen Gründe, die auch offiziell als Anlass für die Überarbeitung genannt werden.
Aber seien wir ehrlich: Auslöser war meines Erachtens der erwähnte Fall des rechtsextremen Oberleutnants und die sich daran anschließende Debatte über das Verhältnis von ehemaliger Wehrmacht zur Bundeswehr und die sich daran anknüpfende Frage, was denn aus der Zeit zwischen 1933 und 1945 für die Bundeswehr traditionsstiftend sein könnte. Eine Diskussion, wie wir wissen, die die Bundeswehr seit ihrer Gründung begleitet –  ich bin geneigt zu sagen: verfolgt –  und die offensichtlich auch über 60 Jahre nach Aufstellung der Bundeswehr noch nicht abgeschlossen zu sein scheint.
Wer die derzeit laufenden Diskussionen zu diesem Thema innerhalb und außerhalb der Bundeswehr mitverfolgt hat, weiß, dass es durchaus „eine Welle gemacht hat“, wie die jüngere Generation sagen würde. Ich habe versucht, diese Diskussion auch innerhalb der Truppe möglichst zu verfolgen und dort Beiträge zu leisten, wo ich es kann. Mich haben dabei drei Gedanken besonders geleitet:
1. Wer über die Bedeutung des Themas „soldatische Tradition“ in Ruhe nachdenkt wird möglicherweise – so wie auch ich – zu dem Schluss kommen, dass wir im Grunde genommen über eine aktuelle Standortbestimmung der Bundeswehr sprechen. Denn wer über soldatische Tradition nachdenkt, der schaut keineswegs, wie manche fälschlich glauben, nur in die Vergangenheit. Im Gegenteil! Indem man die Frage stellt: „Was ist von Vergangenem heute für die Bundeswehr traditionswürdig?“ stellt man automatisch die Frage nach dem „Heute“ und „Jetzt“ und zieht dann fast zwangsläufig eine Linie in die Zukunft. Deswegen spreche ich von einer Standortbestimmung.
2. Die Pflege soldatischer Traditionen ist und war nie ein Selbstzweck. Die Pflege soldatischer Tradition dient ganz wesentlich der Formung des soldatischen Selbstverständnisses und in dieser Hinsicht auch der Erziehung besonders unserer jungen Soldaten. Als ehemaliger Truppenführer weiß ich, dass sich die jungen Soldaten schon fragen, woher sie kommen, worauf sich ihr Beruf gründet und wohin er sie führt. Wer auf diese Fragen Antworten geben will, wird an dem Thema „Tradition“ nicht vorbeikommen. Und die Antworten, die man dann gibt, sollten keine allzu „akademischen“ sein. Gerade die jungen Soldaten wollen etwas „zum Anfassen“ haben, etwas, was sie verstehen.
3. Wer über soldatische Traditionen spricht, muss sich darüber im Klaren sein, dass er auch immer über eine Auswahl spricht: Nicht alles, was vergangene Armeen geprägt hat, ist auch heute noch traditionswürdig oder –fähig. Wir müssen uns also sehr gut überlegen, was an Vergangenem auch heute noch dazu dienen könnte, unseren Soldaten den Zugang zu ihrem Beruf und zur Entwicklung ihres soldatischen Selbstverständnisses zu ebenen. Diese Auswahl, die aus meiner Sicht immer zu treffen ist, macht genau den Unterschied zu dem, was man als „Traditionalismus“ bezeichnet, nämlich dem Bewahren um des Bewahrens willen. In diesem Zusammenhang noch eine Beobachtung: In der Diskussion um soldatische Traditionen beobachte ich gelegentlich einen Begriffswirrwarr: Häufig wird der Begriff „Tradition“ verwendet, aber gemeint ist eigentlich soldatisches Brauchtum und soldatische Rituale. Darüber möchte ich im Folgenden nicht sprechen. Wer dazu etwas lesen möchte, schaue in den guten alten „Transfeldt“. Ich meine das Buch mit dem schönen Titel „Wort und Brauch in Heer und Flotte“. Es steht übrigens bei mir im Bücherregal, und ich blättere auch heute noch gern darin.
2. Zum Workshop an der FüAkBw vom 17.08.17
Ich habe am 1. Workshop zum Gesamt-Thema „Neuer Traditionserlass der Bw“ am 17.August an der Führungsakademie in Hamburg teilgenommen. Der erste Workshop stand unter dem Gesamtthema „Die Tradition der Bundeswehr im Kontext von europäischer Verteidigungsidentität und transatlantischer Sicherheitspartnerschaft“. Die Formulierung des Themas klang mir zunächst sehr akademisch; der Workshop hat aber gezeigt, dass das Thema unter den Teilnehmern wesentlich „bodenständiger“ und grundsätzlicher diskutiert wurde, als ich zunächst angenommen hatte. Weitere Workshops sollen folgen. Ich gehe davon aus, dass die Ergebnisse der Workshops dokumentiert werden.
Die Leitung dieser Auftaktveranstaltung lag bei Ministerin von der Leyen, der Generalinspekteur, General Wieker, war durchgängig anwesend. Teilnehmer waren im Wesentlichen Angehörige des Stabes der FüAk, Lehrgangsteilnehmer, akademische Vertreter sowie einige Ehemalige. In ihren einleitenden Worten gab die Ministerin u.a. zu verstehen, dass man sich bei der Überarbeitung des Traditionserlasses von 1982 Zeit lassen wolle, weil es das Thema erfordere.

Ich halte das für richtig, weil das Thema keine oberflächliche Behandlung verträgt und auch aus dem gerade zu Ende gegangenem Wahlkampf herausgehalten wurde, wenn man denn unterstellt, dass es die Brisanz für ein Wahlkampfthema hatte.Es gab zur weiteren Einführung in die Thematik sehr gute Einführungsvorträge, auf die ich im Folgenden auch gelegentlich inhaltlich zurückgreifen möchte. In insgesamt vier Arbeitsgruppen versuchte man eine erste Annäherung an das Thema und die sich daraus ergebende weitere Teilaspekte.

Eine der Arbeitsgruppen fand unter der persönlichen Leitung des Kommandeurs der Führungsakademie, Konteradmiral Stawitzki, statt. In dieser Arbeitsgruppe war auch ein junger britischer Major vertreten, der dem britischen Heer angehört und derzeit am Generalstabslehrgang teilnimmt.
An ihn richtete der Kommandeur der FüAk die Frage „Was versteht man in den britischen Streitkräften unter Tradition?“ Der junge britische Major überlegte kurz und gab dann folgende ruhige Antwort: „Ich weiß nicht, was die Navy und die Airforce unter Tradition verstehen, ich kenne nur die Tradition meines Regiments!“
Erstaunte Nachfrage des Kommandeur FüAk: „Aber was ist denn mit den Werten und Normen, auf denen ihre Traditionen aufbauen?“
Wiederum gelassene Antwort des jungen Majors: „Ich bin britischer Staatsbürger und diene als Offizier meinem Land. Es ist doch klar, dass ich dessen Normen und Werte vertrete!“
Ich halte diese beiden Antworten für typisch britisch und auch für bemerkenswert! Natürlich ist mir klar, dass ein Land wie Großbritannien an das Thema „Soldatische Traditionen“ anders herangehen kann als wir Deutschen. Großbritannien blickt auf lange Zeiträume mit ungebrochenen Traditionslinien zurück.
Aber dennoch haben gerade die Antworten des britischen Majors bei mir folgende Überlegungen ausgelöst:
1. Offensichtlich muss man nicht alles aufschreiben und vorgeben, was gerade das Thema Tradition betrifft, sondern man sollte Freiräume lassen, um die Inhalte dort mit Leben zu füllen, wo sie auch wesentlich gelebt werden müssen und sollen, nämlich an der Basis in der Truppe.
2. Man hat in der Folge offensichtlich in Großbritannien verstanden, dass dies – aufgezeigt am Beispiel des britischen Heeres – die Regimenter sind. Dort lässt man Freiräume zur Gestaltung und stellt die Traditionspflege in der Verantwortung der Kommandeure, wo sie auch hingehört. Warum geht das nicht auch bei uns?
3. In Großbritannien setzt man offensichtlich als selbstverständlich voraus, dass die eigenen Soldaten die moralischen Grundwerte und ethischen Normen, auf denen das Leben in ihrem Land basiert, akzeptieren und für sie eintreten, weil sie ja auch dessen Staatsbürger sind! Mit Blick auf die deutschen Soldaten ist festzustellen, dass sie sich mit Diensteintritt per Eid verpflichten, die Werte des Grundgesetzes mit Leib und Leben zu schützen und in der Folge in die klaren Pflichten des Soldatengesetzes eingebunden sind. Muss man sie bei der Frage nach soldatischen Traditionen und soldatischem Selbstverständnis immer wieder an diese freiwillig eingegangenen Selbstverpflichtungen erinnern?
Nochmal: Es ist mir klar, dass die britische Geschichte es den Briten ermöglicht, anders an die Frage nach soldatischen Traditionen heranzugehen als es uns unsere eigene Geschichte erlaubt. Aber ich glaube auch, dass der Blick über den Zaun – und dies war ja auch ein Anliegen des 1. Workshops an der FüAk – sich durchaus lohnt und auch für die eigene Diskussion hilfreich sein kann.
Ich möchte auf diese drei vorgenannten Aspekte im Weiteren nochmals eingehen und dazu zunächst einen kurzen Blick auf die Traditionserlasse werfen, die die Bundeswehr bisher hatte:
3. Traditionserlasse der Bundeswehr
Ja, sie haben richtig gehört; ich spreche von Traditionserlassen: Die Älteren hier im Saal werden sich bestimmt noch erinnern, dass es vor dem Erlass von 1982 bereits einen weiteren Erlass gegeben hat, nämlich den von 1965, der durch den damaligen Verteidigungsminister, Kai Uwe von Hassel, unterzeichnet wurde.
Der Erlass von 1965 trug die Überschrift „Bundeswehr und Tradition“ und wurde ins Leben gerufen, weil es zu dieser Zeit innerhalb der Bundeswehr, aber zu nicht geringen Teilen auch außerhalb der Bundeswehr zum Teil heftige Diskussionen vor allem um die Frage gab, was denn mit Blick auf die ehemalige deutsche Wehrmacht für die Bundeswehr tradierbar sei. Wie bereits eingangs gesagt, eine offensichtlich sehr alte Debatte. Der Erlass von 1965 wurde bis auf die Kompanieebene verteilt und sollte einen Rahmen für die Traditionspflege setzten, die man damals klar bei den Truppenteilen sah. Die Abgrenzung zu den Greultaten der Nazis sowie der Missbrauch soldatischen Gehorsam durch sie wurden klar und unmissverständlich angesprochen. Die Freiheit im Gehorsam im demokratischen Rechtsstaat deutlich herausgestellt. Ich halte den Traditionserlass von 1965 auch heute noch für lesenswert. Er enthält u.a. eine Auflistung der Grundhaltungen des Soldaten, die sich auf Tradition gründen. Dazu gehörten neben anderen auch Toleranz, Gewissenstreue und – bedenkenswert für unsere heutige Zeit – Gottesfurcht!
Ich möchte Ihnen kurz aus drei Ziffern dieses Erlasses von 1965 zitieren, die ich auch und gerade vor dem Hintergrund der aktuellen Diskussion für hilfreich halte und die auch den Geist widerspiegeln, in dem der damalige Erlass verfasst wurde:
Ziffer 6:
„In der Geschichte nehmen alle Menschen teil an Glück und Verdienst wie an Verhängnis und Schuld. Diese Einsicht schützt vor einfältiger Bewunderung wie vor blinder Verkennung. Sie öffnet die Augen für den Reichtum der Tradition, macht tolerant, bescheiden und zugleich mutig, selbst Tradition zu bilden.“
Gerade die kluge Erkenntnis, die sich hinter dieser Ziffer verbirgt, würde ich mir heute öfter wünschen, wenn es um die Diskussion gerade um militärische Persönlichkeiten und deren Vorbildcharakter geht, die auch – aber häufig nicht nur – in der ehemaligen Wehrmacht gedient haben. Hier sei auch an den ehemaligen Bundeskanzler, Helmut Schmidt, erinnert, der 2008 in einer Rede aus Anlass der Vereidigung von Rekruten sagte: „Dieser Staat wird Euch nicht missbrauchen“.
Ich bin sicher, dass Helmut Schmidt als ehemaliger Wehrmachtsoffizier sehr gut wusste, wovon er sprach, und es wirkt fast wie Hohn, dass gerade sein Bild in Wehrmachtsuniform zumindest kurzzeitig in der Bundeswehr-Universität Hamburg, die zudem noch seinen Namen trägt, von der Wand genommen wurde.
aus der Ziffer 12:
„Zur besten Tradition deutschen Soldatentums gehört gewissenhafte Pflichterfüllung um des sachlichen Auftrages willen. Sie weiß sich unabhängig von Lob und Tadel und ist eine sichere Grundlage persönlicher Freiheit….“
und schließlich aus der Ziffer 13:
„Gehorsam und Pflichterfüllung gründeten stets in der Treue des Soldaten zu seinem Dienstherrn, der für ihn Recht, Volk und Staat gelobt. Er bindet beide, Soldaten und Dienstherrn im Gewissen….“
Damit wird unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, dass
eine der, wenn nicht die Grundpflicht des Soldaten der Gehorsam ist. Eine Forderung, an die wir uns auch heute öfter erinnern sollten. Gerade dann, wenn vor dem Hintergrund einer Reihe von Einzelereignissen, mögen sie zunächst auch bedeutender erscheinen als sie bei ruhiger Betrachtung tatsächlich sind, von dem einen oder anderen im Eifer des Gefechts sehr schnell der „Aufstand der Soldaten“ oder vorzugsweise der „Aufstand der Generale“ gefordert wird.
Es wird ebenso deutlich gesagt, dass dem gegenseitigen Treueverhältnis von Soldaten und Dienstherrn größte Bedeutung zukommt. Genau dem trägt der Wahlspruch der Fallschirmjäger, nämlich „Treue um Treue“, besonders Rechnung. Es war und ist mir deshalb unverständlich, warum gerade dieser Wahlspruch mit einem Verbot belegt wurde. Ich hoffe, dass dieses Verbot keinen dauerhaften Bestand haben wird. Wir Fallschirmjäger sollten auf jeden Fall weiter daran arbeiten, dass unser Motto wieder in den richtigen historischen Kontext gestellt wird. Ich möchte und werde dazu einen Beitrag leisten!
Der Traditionserlass von 1982 wurde zu Ende der Amtszeit des damaligen Verteidigungsministers Hans Apel herausgegeben.
Wir sprechen zwar immer von einem Erlass, tatsächlich war aber von „Richtlinien zum Traditionsverständnis und zur Traditionspflege in der Bundeswehr“ die Rede. Den Begriff „Richtlinien“ sollte man nicht überlesen, weil er die Grundausrichtung dieses Erlasses beschreibt, nämlich keine zu engen Vorgaben zu machen, sondern einen Rahmen zu setzten, in dem sich die Soldaten bewegen können. Dieser Erlass entstand als Folge eines erheblichen Drucks von außen u.a. in Gestalt von gewalttätigen Demonstrationen gegen Gelöbnisse und militärische Zeremonien im Rahmen des großen Zapfenstreiches. Der Erlass von 1965 wurde von Minister Apel aufgehoben.
Mit Blick auf die NS-Zeit wurde in der Ziffer 6 festgestellt, dass „In den Nationalsozialismus … Streitkräfte teils schuldhaft verstrickt (waren), teils …. schuldlos missbraucht (wurden)“. Daraus wurde geschlussfolgert,  dass „Ein Unrechtsregime wie das Dritte Reich …Traditionen nicht begründen (kann)“ Diese Formulierung ist klar in ihrer grundsätzlichen Abgrenzung zum Dritten Reich als Ganzem, nach meinem Dafürhalten allerdings auslegefähig – vielleicht sogar bewusst – was die Rolle der ehemaligen Wehrmacht angeht und daraus abgeleitet die Frage, inwieweit zum Beispiel Soldaten, die in ihr gedient haben, durch ihre damaligen militärischen Leistungen traditionsstiftend sein können. Diese Ambivalenz klingt für mich auch in der vorhergehenden Aussage durch, wo es um schuldhafte Verstrickung, aber auch um schuldlosen Missbrauch geht. Es bleibt abzuwarten, wie man im neuen Erlass mit diesem Problem umgehen wird. Immerhin haben bereits die Verteidigungsminister Wörner und Rühe betont, dass Soldaten der Wehrmacht, die weder exponierte Nationalsozialisten waren, noch Verbrechen begangen hatten und durch herausragende Taten im Krieg hervorgetreten sind, Vorbilder für Soldaten der Bundeswehr sein können.
Abschließend zu den Richtlinien von 1982 sei noch auf die darin betonte besondere Verantwortung, aber auch die Handlungsfreiheit der Kommandeure und Einheitsführer mit Blick auf die Traditionspflege hingewiesen. In der Ziffer 21 heißt es dazu: „Kommandeure und Einheitsführer treffen ihre Entscheidungen auf der Grundlage von Grundgesetz und Soldatengesetz im Sinne der hier niedergelegten Richtlinie selbständig.“ Auch an dieser Stelle bleibt abzuwarten, wie die Rolle der Offiziere in Führungsverantwortung mit Blick auf die Traditionspflege demnächst beschreiben sein wird.
4. Eine Zwischenbilanz
Lassen Sie mich eine erste Zwischenbilanz ziehen:
 Beide Erlasse, der von 1965 wie auch der von 1982 entstanden – wenn auch nicht ausschließlich – unter erheblichem äußeren Druck. Auch der aktuelle Anstoß für die Überarbeitung der Richtlinien von 1982 ist zwar auf ein bundeswehr- internes Vorkommnis zurückzuführen, dem aber erheblicher öffentlicher Druck folgte. In allen Fällen musste erst äußerer Druck aufkommen, damit der Prozess der Überarbeitung der Erlasse in Schwung kam. Wegen des öffentlichen Drucks mussten zumindest die beiden letzten Erlasse sich dadurch inhaltlich bis zu einem gewissen Grad auch immer an die Öffentlichkeit wenden. Die Erlasse waren also nie ausschließlich „Bundeswehr interne“ Papiere und konnten es auch nicht sein. Dies zu berücksichtigen halte ich für wichtig, weil dadurch besser verständlich wird, dass auch bestimmte Aussagen in den Erlassen zu finden sind, von denen wir Soldaten uns manchmal fragen, ob sie denn in einen solchen Erlass überhaupt hineingehören.
Ich halte beide Erlasse auch heute noch für lesenswert; viele guten Gedanken und Grundsätze sind darin enthalten. Beherzigt man das, wird man möglicherweise feststellen, dass der Änderungsbedarf vielleicht geringer ist als man auf den ersten Blick glaubt. Gerade der Erlass von 1982 kann durchaus an einigen Punkten schärfer gefasst und aktualisiert werden. Dies sollte aber behutsam geschehen und nicht „mit dem Brecheisen“.
Der Leiter der „Gedenkstätte Deutscher Widerstand“ in Berlin, Johannes Tuchel, soll einmal gesagt haben: „Geschichte kann ich mir nicht aussuchen, Tradition kann ich mir aussuchen.“  Das ist dann wohl so ähnlich wie mit „Familie“ und „Freunden“… Aber ernsthaft: Wenn es um das „Aussuchen“ für die Traditionslinien der Bundeswehr geht, dürfen wir nicht vergessen, dass allein die 10 Jahre zwischen 1945 und der Aufstellung der Bundeswehr 1955 bereits einen Traditionsbruch dargestellt haben. Die hoch emotionalen und heftigen Diskussionen im Zuge der Aufstellung der Bundeswehr legen ein beredtes Zeugnis dafür ab. Und noch weniger dürfen wir vergessen, dass die Instrumentalisierung der Wehrmacht durch Hitler für seine Ziele vermutlich der größte Traditionsbruch war, den eine deutsche Armee hat je hinnehmen müssen. Gerade der militärische Widerstand wäre nach meinem Dafürhalten nicht denkbar gewesen, wenn sich nicht Offiziere auf die moralischen und ethischen Wurzeln preußisch-deutscher Militärtradition und die darin enthaltenen Tugenden besonnen hätten und bereit gewesen wären, für diese Gesinnung mit ihrem Leben zu bezahlen.
Es geht bei Traditionen um Werte. Das unterscheidet sie gerade von militärischem Brauchtum und militärischen Ritualen; ich hatte bereits darauf verwiesen. Der deutsch-christliche Philosoph Josef Pieper hat „Tradition“ als die emotionale Übernahme von Wertvorstellungen aus der Vergangenheit definiert. Er hat damit „Wertvorstellungen“ eng mit deren „emotionalen Akzeptanz“ verbunden. Ich glaube, dass er damit Recht hat: Man kann niemanden zwingen, Traditionen anzunehmen, der Betroffene muss dazu innerlich bereit sein. Das gilt umso mehr für uns Soldaten und unser soldatisches Selbstverständnis: Deswegen umso mehr, weil wir im Zweifelsfall bereit sein müssen, auch für den Erhalt dieser traditionellen Werte mit Gesundheit und Leben einzustehen und – dies wird in der öffentlichen Diskussion gern ausgespart – auch bereit sein müssen, Anderen Leben und Gesundheit zu nehmen. Deswegen sagte ich auch eingangs, dass Tradition und die damit verbundenen Werte dem Soldaten eingängig sein müssen. Ich kann aus eigener Erfahrung sagen, dass bei den Gefechten in Afghanistan die Soldaten im Kampf mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht an das Grundgesetz gedacht haben, sondern sich eher uralten soldatischen Werten wie Tapferkeit, Kameradschaft bis in den Tod, Gehorsam und Loyalität verpflichtet sahen, um nur einige zu nennen. Werte im Übrigen, die auch, aber nicht nur von vielen Soldaten der ehemaligen deutschen Wehrmacht persönlich gelebt wurden.
Das führt mich zum 5. und letzten Punkt meiner Zwischenbilanz: Die Bundeswehr wurde zu großen Teilen von Soldaten aufgebaut, die bereits in der ehemaligen deutschen Wehrmacht gedient hatten. Und um der historischen Wahrheit willen muss auch gesagt werden, dass ein kleinerer Teil auch der ehemaligen Waffen-SS angehört hat. Alle Soldaten wurden, bevor sie zum Dienst in der Bundeswehr zugelassen wurden, einer sorgfältigen persönlichen Überprüfung unterzogen. In der Folge wurde durch herausragende Köpfe dieser Generation u.a. das Konzept der Inneren Führung und des Staatsbürgers in Uniform entwickelt,
die sich beide gegenseitig bedingen und seitdem zu den Grundlagen der Bundeswehr gehören. Ich selbst bin noch von Soldaten dieser Generation geführt und ausgebildet worden, und ich kann von keinem sagen, dass er ein verkappter Nazi gewesen sei. Viele von diesen hatten sich zudem hohe Tapferkeitsauszeichnungen im Krieg erworben und wussten genau, wieviel menschliches Elend regelmäßig mit Krieg einhergeht.
Leider hat sich dieser „Anfangsverdacht“ gegen die Bundeswehr im Sinne einer vermeintlich zu engen Bindung an die ehemalige deutsche Wehrmacht auch auf dem Feld der Traditionen bis heute nicht ganz aufgelöst. Gern bedienen sich seiner auch heute noch gesellschaftliche Gruppierungen, die grundsätzlich gegen die Bundeswehr und das Bündnis opponieren und beides am liebsten abgeschafft sehen würden. Dies erklärt auch, warum Vorfälle wie der des mehrfach zitierten Oberleutnants Franco A. von manchen geradezu hysterisch aufgebauscht und zu einer „Causa Bundeswehr“ hochstilisiert werden. Der Fall ist ohne Frage schwerwiegend und ernst zu nehmen. Man darf dabei allerdings nicht außer Acht lassen, dass er – Gott sei Dank – nur einige sehr wenige betrifft angesichts einer Organisation mit allein 185.000 Soldatinnen und Soldaten. Diese alle unter einen Pauschalverdacht zu stellen ist nicht nur sachlich unsinnig, sondern auch allen Nicht-Betroffenen gegenüber respektlos und menschlich unanständig.
5. Blick nach vorn
Lasse Sie uns nach dieser Rückschau den Blick nach vorne richten.
Die Bundeswehr ist nun über 60 Jahre alt. Damit ist sie älter als die ehemalige Reichswehr und die ehemalige Wehrmacht zusammengenommen. Zählt man die Armee des Kaiserreiches noch dazu, ist die Bundeswehr nur geringfügig jünger. Zu Recht kann man sich hier die Frage stellen, ob dieser – auch in historischen Zusammenhängen- lange Zeitraum nicht Grund genug ist, darüber nachzudenken, ob es nicht aus der Geschichte der Bundewehr heraus Traditionen gibt, die sich als Linien in die Zukunft verlängern lassen und der derzeitigen Soldatengeneration und vielleicht auch nachfolgenden Richtschnur sein können?
Ich glaube ganz fest, dass dies der Fall ist!
Welche Felder sind es, aus denen wir Traditionen ableiten könnten? Lassen Sie mich einige davon zumindest anreißen:
Die Bundeswehr von heute ist durch zunehmende Internationalisierung und Auslandseinsätze gekennzeichnet. Letztere decken immerhin nun auch schon wieder über 20 Jahre ab; ein Ende ist nicht in Sicht! In inzwischen über 40 Auslandseinsätzen wurden deutsche Soldaten – dies gilt vor allem für den Einsatz in Afghanistan – an die äußersten Grenzen ihres Berufes, an das, was ich gern als „das scharfe Ende“ bezeichne, geführt und mit allen Härten von Gefechten konfrontiert. Wer die Gesichter der jungen Infanteristen besonders in den Jahren 2010/2011 in Afghanistan – überwiegend Fallschirmjäger, Gebirgsjäger und Grenadiere – nach zum Teil 6 und mehr Monaten durchgehendem Infanterieeinsatz gesehen hat, erinnert sich sehr schnell an Fotos ihrer Großväter im 2. Weltkrieg: Auch heute noch sind diese Gesichter von Strapazen, Entbehrungen, Müdigkeit und Erschöpfung gekennzeichnet. Als damaliger Kommandeur habe ich mir oft die Frage gestellt, wann ich meine Soldaten nach langen Tagen bei zum Teil 45 Grad und mehr spätestens aus dem Gefecht herauslösen muss, um ihnen eine Ruhepause zu gönnen. Ich möchte auch nicht unerwähnt lassen, dass sich einzelne Soldaten in den Einsätzen und besonders in Afghanistan, durch herausragende persönliche Tapferkeit ausgezeichnet haben und zu Recht mit dem entsprechenden Ehrenkreuz für Tapferkeit ausgezeichnet wurden.  Wir sprechen mittlerweile von 29 derart ausgezeichneten Soldaten, von denen 3 nur noch posthum geehrt werden konnten. Angesicht der Tausenden von Soldaten, die inzwischen allein in Afghanistan waren, kann man ganz sicher nicht von einem inflationären Gebrauch dieser höchsten Stufe des Ehrenkreuzes sprechen. Sie wurde übrigens von dem oft zu Unrecht geschmähten Verteidigungsminister Jung eingeführt und von Bundespräsident Köhler gestiftet. In den Auslandseinsätzen seit 1992 haben bisher 108 Soldaten der Bundeswehr ihr Leben verloren. Der „Wald der Erinnerung“ beim Einsatzführungskommando in Potsdam ist diesen gewidmet. Bisher haben über 20.000 Besucher diesen Wald gesehen. Bei weitem nicht nur Soldaten, sondern überwiegend Bürgerinnen und Bürger unseres Landes, darunter auch viele Schulklassen.
Ganz deutlich wird am Beispiel der Auslandseinsätze, dass die Soldaten heute durch die gemeinsamen Einsatzerlebnisse eng verbunden sind.

Der „Leim“, der sie dabei zusammengehalten hat, basiert auf den klassischen soldatischen Tugenden wie auch bei ihren Vorgängergenerationen. Ihr berufliches Selbstverständnis ist dadurch deutlich geprägt worden.

Hier können und müssen Traditionslinien aufgenommen und in die Zukunft übertragen werden. Dass diese Erfahrungen gemeinsam mit Soldaten verbündeter und befreundeter Nationen gemacht werden – oft buchstäblich Schulter an Schulter – ist meiner Meinung nach etwas, was sie von den Soldaten der ehemaligen Wehrmacht unterscheidet und ein wertvolles Pfund, was es auch im Sinne von Traditionspflege zu wahren gilt. Denn eines steht für mich fest: Die Bundeswehr ist bisher und wird auch zukünftig nicht in Einsätze gehen, ohne multinational eingebunden zu sein. Dies geschieht nicht, weil unsere Verbündeten uns nicht trauen, sondern deshalb, weil weder die politischen noch die materiellen Belastungen der Einsätze eine Nation allein schultern kann. Dies gilt auch für die Großmacht USA.

Aber es sind nicht nur die Einsätze, die traditionsstiftend sein können und sollten? Ich denke zum Beispiel an die humanitären Hilfeleistungen im In- und Ausland, an denen die Bundeswehr bereits über Jahrzehnte – genau seit 1959 –  beteiligt war. Auch dabei hat sich die Bundeswehr einen hervorragenden Ruf erworben und große Anerkennung verdient. Leider ist davon vieles in Vergessenheit geraten.
Wer erinnert sich noch an die Brandkatastrophe von 1959 in der Nähe von Iserlohn? Acht harte Tage kämpften deutsche, belgische, britische und kanadische Soldaten tapfer dagegen an!
Viele mögen sich noch an die Sturmflut in Hamburg von 1962 erinnern. Aber wer weiß noch, dass an deren Bekämpfung insgesamt rund 40.000 NATO-Soldaten, darunter neben den deutschen auch britische, amerikanische und niederländische Soldaten beteiligt waren?
Wer erinnert sich heute noch an das verheerende Erdbeben von 1960 in der Gegend von Agadir in Maroko mit ca. 15.000 Toten? Neben Frankreich, Spanien und den USA schickten auch die Niederlande, Italien und auch Deutschland Soldaten zur Hilfeleistung. Der Einsatz der deutschen Soldaten wurde damals übrigens noch als „Übung“ deklariert.
Das große Oderhochwasser von 1997 will ich nur noch erwähnen.
Es gibt übrigens eine nicht unerhebliche Zahl von Soldaten, die dabei waren und noch heute in der Bundeswehr dienen.
Auch mit Blick auf die humanitären und Rettungseinsätze – und die Liste ließe sich noch lang fortsetzen – bin ich ganz sicher, dass sich daraus Traditionen ableiten lassen, dass diese Einsätze an sich schon eine Tradition sind. Allerdings müssen gerade wir Soldaten selbst zulassen, dass auch diese Einsätze als „vollwertige“ Einsätze von uns selbst anerkannt und akzeptiert werden. Wir tun uns manchmal schwer damit. Aus dem einen oder anderen Gespräch ist bei mir gelegentlich der Eindruck entstanden, als wenn sich Traditionen nur aus Kampfeinsätzen ableiten ließen. Eine Haltung, die ich besonders bei den Kampftruppen beobachte. Aber seien wir ehrlich: Gehört nicht sehr viel Mut und Tapferkeit dazu, in eine Feuersbrunst zu gehen, um zu löschen oder zu bergen oder einen Teich zu stabilisieren, der jederzeit aufbrechen kann und dann alles mit sich reißt? Ich glaube, dass dazu nicht weniger Mut und Tapferkeit gehört als sich im Angesicht des Feindes zu bewähren.
Wenn nur der Kampf und das Gefecht traditionsstiftend sein könnten, was ist dann mit den zig-tausenden von Soldaten, die weder an den Auslandseinsätzen noch an humanitären Einsätzen beteiligt waren? Ich rede nun von den Soldatengenerationen, die ihren Beitrag geleistet haben, dass der kalte Krieg kalt geblieben ist.
Ich selbst habe die ersten 17 Jahre meiner Dienstzeit als junger Kampftruppenoffizier im kalten Krieg verbracht. Und ich bin sicher, dass ich für viele meiner und der Vorgängergenerationen spreche, wenn ich sage: Wir haben auch damals unseren Auftrag verdammt ernst genommen! In meinem Bücherregal stehen Chroniken von einigen Verbänden, in denen ich in dieser Zeit gedient habe. Wenn ich allein die Abwesenheiten von zuhause in einem sogenannten „kleinen Übungsjahr“ in dieser Zeit zusammenzähle, so komme ich in der Summe schnell auf Abwesenheitszeiten, wie wir sie heute für Auslandseinsätze rechnen. Ja, es hat damals niemand auf uns geschossen! Gott sei Dank! Aber ich bin sicher, dass viele hier im Saal sich noch gut erinnern können, wie man nach drei oder vier Wochen Übungsplatzaufenthalt mit Schießvorhaben und freilaufenden Übungsanteilen nach Hause kam: Müde, schmutzig und oft auch ausgelaugt. Ich kann mich noch gut an eine dieser Rückkehren als junger Kompaniechef erinnern, wo ich gerade noch den Weg in die Badewanne geschafft habe, in der ich dann eingeschlafen bin.
Meine Frau hat mich schließlich „gerettet“.
Sie werden sich ebenso erinnern, dass es fast keine größere Übung gegeben hat, in der nicht Soldaten schwer verletzt oder sogar zu Tode gekommen sind. Vielen ist es nicht bewusst, dass bisher über 3.200 Soldaten und zivile Mitarbeiter der Bundeswehr in Ausübung ihres Dienstes ihr Leben verloren haben. Das Ehrenmal der Bundeswehr in Berlin erinnert daran.
Glauben wir wirklich, dass aus diesen langen Jahren des Einsatzes von so vielen für den Frieden und die Freiheit keine Traditionen abzuleiten sind? Gehört nicht viel Standhaftigkeit, Pflichtbewusstsein und Treue an die Aufgabe dazu, seinen Auftrag über Jahrzehnte gut und zuverlässig zu erfüllen, gerade wenn man nicht zum Einsatz kommt, so wie im Kalten Krieg? Ist es kameradschaftlich und loyal, dass wir den Dienst der Soldatengenerationen der Bundeswehr, die in ihr zwischen 1955 und 1992 gedient haben, so wenig würdigen?
Ich meine, es wird auch hier höchste Zeit, darüber nachzudenken!
Ich bin mir wohl bewusst, dass ich heute an der Luftlande- und Lufttransportschule – ich kann mich mit dem Begriff „Ausbildungsstützpunkt“ noch immer nicht so recht anfreunden – vortrage und Sie von mir vielleicht erwarten, dass ich etwas zu dem Thema Tradition mit Blick auf die Fallschirmjäger sage. Ich will es zumindest versuchen.
Im Grunde gilt das, was ich im Vorangegangenen gesagt habe, auch für die Fallschirmjäger. Wobei ich einschieben möchte, dass mir der Begriff „Luftlandetruppen“ lieber ist. Natürlich bilden die Fallschirmjäger deren Kern, aber wir wissen alle, dass ohne die Unterstützung einer ganzen Reihe anderer Truppengattungen auch des Heeres die Einsätze der Fallschirmjäger nicht möglich wären. Was uns alle verbindet, ist die Fähigkeit schnell als Soldaten der 1. Stunde und aus der Luft in den Einsatz verlegt zu werden.
Auch die Luftlandetruppen der Bundeswehr blicken auf eine über 60-jährige Geschichte zurück. Die Fallschirmjäger gehörten mit zu den ersten, die im multinationalen Verbund geübt haben. Die Übungsserie COLIBRI ist ein deutlicher Beleg dafür.
Auch was die Auslandseinsätze angeht, waren die Fallschirmjäger zeitlich und räumlich ganz weit vorn mit dabei. Ich denke dabei an die Allied Mobile Force (Land), die sogenannte AMF (L), umgangssprachlich „NATO-Feuerwehr“ genannt. Die Aufgabe dieses multinationalen Verbandes war es, im Falle eines Angriffs des ehemaligen Warschauer-Paktes die Flanken der NATO im Norden und Süden des Vertragsgebietes schnellstmöglich  zu schützen und dabei ein Zeichen des Zusammenhaltes des Bündnisses zu setzen.
Auf Anfrage der NATO von 1960 meldete Deutschland u.a. ein Fallschirmjägerbataillon in die AMF(L) ein. In der Folge nahm im Oktober 1961 erstmals das damalige Fallschirmjägerbataillon 262 einschließlich einer Sanitätskompanie und einer Luftlandefernmeldekompanie an der Übung FIRST TRY auf Sardinien teil. Die Übungen der AMF(L) setzen sich seitdem regelmäßig – zuweilen im Jahresrhythmus – fort. Die AMF(L) wurde nach über 40 Jahren ihres Bestehens 2002 aufgelöst. Ich bin mir ganz sicher, dass sich auch aus diesen Einsätzen Traditionen ableiten lassen, man muss sich nur daran erinnern und danach fragen. Wahrscheinlich sitzt heute hier im Saal noch eine ganze Reihe von Kameraden, die in der AMF(L) gedient haben und viel beitragen könnten.Genauso wie in den anderen Truppengattungen des Heeres haben auch Fallschirmjäger der ehemaligen deutschen Wehrmacht einen ganz wesentlichen Beitrag zum Aufbau der Fallschirmtruppe der Bundeswehr geleistet. Nach allem, was ich gelesen und gehört habe, muss es auch hier herausragende Persönlichkeiten gegeben haben, über deren Wirken man zum Teil noch heute spricht. Das ist völlig in Ordnung, und wir sollten deren Andenken pflegen.
Mit den Einsätzen der Fallschirmjäger im 2. Weltkrieg kam ich erstmals während meiner Ausbildung an der Führungsakademie in unmittelbare Berührung. Wir machten in dieser Zeit eine einwöchige kriegsgeschichtliche Exkursion nach Kreta, um den damaligen Einsatz der deutschen Fallschirmjäger vor Ort zu besprechen. Wir hatten das Glück, dass wir dabei von einem Ehemaligen begleitet wurden, der diesen Einsatz persönlich miterlebt hatte. Neben Erkenntnissen zu Taktik und Operationsführung stehen mir aus dieser Exkursion noch zwei Bilder vor Augen: Das erste bezieht sich auf den Grabstein eines jungen deutschen Fallschirmjägers, der bei diesem Einsatz zwei Wochen nach seinem 17. Geburtstag gefallen war.
Das zweite bezieht sich auf unseren Begleiter, der uns vieles so authentisch darstellte. Dem alten Mann brach die Stimme als wir an einer Brücke ankamen, an der er Jahrzehnte vorher mit den Fallschirmjägern unter Feindfeuer in Deckung lag. Wir wurden alle sehr still und ließen ihm gern einige Minuten, um sich wieder zu sammeln.
Als ich dann 2001 meinen Dienst als Chef des Stabes der damaligen DSO antrat und damit in unmittelbaren Kontakt zu den Fallschirmjägern der Division kam, wurde mir schnell klar, dass gerade die Einsätze auf Kreta und die Schlacht um Monte Cassino bis heute nachwirken. Heute und hier ist nun weder der Platz noch die Zeit, diese Einsätze unter operativen Gesichtspunkten zu diskutieren. Besonders was Kreta betrifft, sprechen die Verlustzahlen leider eine nur zu deutliche Sprache. Ich empfehle in diesem Zusammenhang das Buch von Brigadegeneral a.D. Dr. Roth zur Geschichte der deutschen Fallschirmtruppe zwischen 1936 und 1945.
Die Tatsache, dass diese Einsätze noch heute im Bewusstsein sicher nicht aller, aber einer gewiss nicht geringen Zahl auch junger Fallschirmjäger sind, ist vermutlich weniger auf die Taktiken und die damalige Operationsführung zurückzuführen. Es ist vielmehr ein tief emotionales Element, nämlich das Andenken an den Opfermut, die Tapferkeit und die Entschlossenheit im Kampf, der diese zum Teil blutjungen Soldaten auszeichnete. In diesem Sinne standen auch diese Männer in der guten Tradition deutscher Soldaten vieler Generationen.
Ich freue mich jedes Mal, wenn ich höre, dass es zu Ehren der Gefallenen aller an der Schlacht um Kreta und Monte Cassino beteiligten Nationen Gedenkfeiern gibt, die dem Andenken an die Toten gewidmet sind und den Gedanken der Versöhnung in den Mittelpunkt stellen. Dies gilt im Übrigen auch für viele vergleichbare Veranstaltungen, die den Gefallenen aller Seiten bei anderen Schlachten gewidmet sind.
Es gibt noch einen Umstand, der die Traditionspflege bei der Fallschirmjäger- bzw. Luftlandetruppe bis heute erschwert und über den wir uns im Klaren sein müssen. Er liegt darin begründet, dass – ungleich zu anderen Truppengattungen – die Fallschirmjägertruppe ihre Existenz ausschließlich dem Dritten Reich verdankt und im Krieg an prominenter Stelle eingesetzt war. In der Folge wird besonders bei denen, die grundsätzlich gegen alles Militärische eingestellt sind, auch heute noch der Fallschirmtruppe der Bundeswehr unterstellt, sie habe eine besondere Nähe zur NS-Zeit. Dies ist zwar objektiv vollkommen falsch; das darin enthaltene Vorurteil wird aber durch Vorkommnisse wie das des vielzitierten Oberleutnants Franco A. geschürt und von einigen liebevoll gepflegt. Natürlich müssen wir uns keinem Vorurteil beugen, sondern haben das Recht, dagegen anzugehen. „Leisetreterei“ ist nicht angesagt und auch nicht nötig. Allerdings gebietet es die Klugheit, gerade auf so sensiblen Feldern wie Traditionspflege mit Vorsicht und Augenmaß vorzugehen. Man muss denen, die uns ohnehin nicht wohlwollen, nicht noch in die Karten spielen!
Ein letzter Punkt, was die Traditionspflege bei den Luftlandetruppen angeht, der aber nicht nur für diese gilt.
Mir ist gerade über die letzten Jahre klargeworden, welcher Verlust an gewachsenen Traditionen in der Bundeswehr durch die über mittlerweile Jahrzehnte andauernden ständigen Reformen, Umgliederungen und Auflösungen entstanden ist. Bitte verstehen Sie mich nicht falsch: Die Reformen wurden zum jeweiligen Zeitpunkt, als über sie entschieden worden ist, als nötig und unaufschiebbar bewertet. Im Übrigen teilt hier die Bundeswehr das Schicksal der meisten vergleichbaren europäischen Armeen. Möglicherweise aber stärker, da die Bundeswehr ein typisches Kind des Kalten Krieges ist. Ich bin mir auch darüber im Klaren, dass die Gefahr, Traditionen zu verlieren, nicht das entscheidende Kriterium für die Durchführung von Reformen sein kann. Man darf aber diesen Umstand nicht aus den Augen verlieren, da er tief in das Innere Gefüge von Einheiten und Verbänden hineinwirkt.
7. Schluss
Über das Thema „Tradition und soldatische Selbstverständnis“ ließe sich noch viel sagen. Ich habe aber in der Überschrift zu meinem Vortrag nicht umsonst von Anmerkungen gesprochen. So habe ich z.B. das Thema „Traditionspflege in der NVA“ komplett ausgespart. Dies wäre ein eigener Vortrag geworden. Ich halte das Thema für wichtig, weil in der Bundeswehr eine nicht geringe Anzahl von Soldaten dienen und gedient haben, die Vordienstzeit in der NVA hatten. Wir sollten auch nicht vergessen, dass inzwischen auch Söhne und Töchter von ehemaligen NVA-Soldaten bei uns dienen.
Mir kam es mit meinem Vortrag darauf an, einige Gedanken und Überlegungen mit Ihnen zu teilen, die mir wichtig erschienen und zum Teil wirklich am Herzen lagen. Vielleicht können wir in der noch verbleibenden Zeit den einen oder anderen Punkt, der Ihnen wichtig ist, aufgreifen.
Ich möchte deshalb an dieser Stelle schließen und zusammenfassen.
1. Die Überarbeitung des Traditionserlasses enthält einige Risiken, aber noch mehr Chancen. Letztere sollten wir nutzen. Alle, auch die Ehemaligen und die Angehörigen der Reserve sind zur Mitarbeit aufgerufen.
2. Der Traditionserlass von 1982 enthält viele gute Gedanken, die man aufgreifen sollte. Es lohnt sich ebenfalls, noch einmal den Erlass von 1965 daneben zu legen. Für ihn gilt Gleiches wie für den Erlass von 1982.
3. Der neue Erlass sollte vor allem der Truppe Spielräume lassen und die Durchführungsverantwortung für Traditionspflege dort belassen oder dorthin zurück delegieren, wo sie hingehört, nämlich bei den Einheiten und Verbänden. Dort dient inzwischen die „Generation Einsatz“, d.h. junge Soldatinnen und Soldaten, die ihren Beruf mit allen Härten kennengelernt haben.
4. Die in der Truppe eingesetzten Führer und Soldaten haben unser aller Vertrauen verdient! Ich bin mir sicher, dass die Kommandeure und Einheitsführer mit Verantwortungsbewusstsein und Augenmaß an alle Fragen der Traditionspflege herangehen werden.
5. Der neue Traditionserlass sollte in Sprache und Inhalt so abgefasst sein, dass er auch von den jungen Soldaten verstanden wird.
6. Allen, die an der Arbeit am neuen Erlass beteiligt sind, muss klar sein, dass seine Inhalte unmittelbar auf das soldatische Selbstverständnis und damit auf das Innere Gefüge der Truppe zurückwirken.
7. Es sollte akzeptiert werden, dass unbenommen des Missbrauchs von Soldaten und unzweifelhafter schuldhafter Verstrickung in die Machenschaften des Dritten Reiches, auch bei sehr vielen Soldaten der ehemaligen Wehrmacht soldatische Tugenden unter zum Teil härtesten Bedingungen gelebt wurden.
8. Die Bundeswehr mit ihrer inzwischen über 60-jährigen Geschichte bietet auf vielen Feldern Anknüpfungspunkte für eigene Traditionen und zukunftsorientierte Traditionslinien. Wir sollten und müssen dies nutzen!